By: Josef Lusser (Guest Writer)

Das Kunsthistorische Museum in Wien: Es ist früher Abend und das ehrwürdige Haus am Ring ist stark besucht. Überall stehen gutaussehende und noch besser gekleidete Menschen im besten Alter und plaudern in verschiedensten Sprachen über Kunst, Gesellschaft und Politik. Zu den lauen Beats eines DJ wird auf der großen Stiege Aperol geschlürft, ehe eine soeben gesichtete Bekannte flüchtig mit Bussi links, Bussi rechts begrüßt wird.

Es ist nur passend, dass im KHM Bruegels Meisterwerk “Turmbau zu Babel” hängt, denn wie im Gemälde, so herrscht auch an diesem Abend das rege Treiben eines internationalen Publikums; alle sind darauf bedacht, den Turm ihres kulturellen Horizontes auszubauen. Ist dies nicht eine Sternstunde der westlichen Zivilisation? In Wien nennt man das auch einfach Kunstschatzi.

Es wird an diesem Abend deutlich, dass Kultur längst wieder ein wichtiger politischer Faktor ist, womöglich sogar der wichtigste. Was man beobachten kann, ist die Lebensführung eines ganz bestimmten Segments der Gesellschaft. Es ist jung, urban, gebildet, pro-europäisch, weltoffen und hat einen Instagram- Account. Wie sehr man diesem Bild entspricht, sagt viel über die politische Haltung aus. So handelt der politische Diskurs heute vielmehr von Fragen rund um die “richtige” Lebensführung, als von Sachthemen wie Wirtschafts-, Bildungs- oder Beschäftigungspolitik.

Doch nicht alle teilen diese Auffassung von Kultur. Fern abseits der Caravaggios, der Canalettos, der Kostbarkeiten der Kunstkammer; in den Tiefen der anonymen Chatforen, aber auch den Nischen von YouTube, findet schon lange eine Gegenvorstellung statt. Hier wird Kultur als ein Abwehrkampf, als ein Nullsummenspiel verstanden. Sabine Lehner, angewandte Linguistin, forscht, wie diskursive Konstruktionen Politik und Identität beeinflussen können.

Anhand einer Analyse unzähliger Videos und Blogeinträge der Identitären Bewegung Österreich stellt sie fest, dass “[e]xplizite Bedrohungsszenarien (…) durch entsprechende (negative) Begriffe, Wertungen, Attribuierungen, Adjektive, Unwertworte etc. als solche realisiert [werden].” Das Herzstück dieser Politik ist, dass Kultur als etwas radikal Bedrohtes gesehen wird.

So etwa, wenn der Chef der Identitären Bewegung Österreich, Martin Sellner, wie auch der ehemalige Vizekanzler der Republik von einem “Bevölkerungsaustausch” sprechen. Nach dieser Auffassung ist jeder Dönerstand, jede Fremdsprache, die in der U-Bahn gesprochen wird, jeder einem anderen Land entstammende Brauch ein Schritt in die Vernichtung der eigenen Kultur.

Denn, so Lehner: “Die Verbindung von Krisen/Bedrohungen und Identität ist Dreh- und Angelpunkt für die ‘Identitären’.” Wie gefährlich dieses Verständnis von Kultur ist, zeigte sich im März 2019, als der australische Rechtsterrorist Brenton Tarrant in zwei Moscheen in Neuseeland 50 Menschen erschoss. Er selbst sah sich natürlich nicht als Mörder, sondern bloß als Verteidiger seiner Kultur.

Gut einen Monat nach den Anschlägen in Neuseeland brannte der mittelalterliche Dachstuhl der Pariser Kathedrale Notre Dame ab. War dies nun die Erfüllung einer kulturpessimistischen Prophezeiung – quasi die Verkörperung des endgültigen Niedergangs des Abendlandes – oder doch bloß ein Kabelbrand? Wohl eher Letzteres, wobei die genaue Brandursache noch nicht geklärt wurde.

Auf jeden Fall zeigt der Brand von Notre Dame, wie sehr Kulturgüter Menschen bewegen können. Die Tränen in den Augen der Zeugen; die im französischen Fernsehen den ganzen Abend lang wiederholten Worte, Notre Dame sei ein Teil von uns; sowie – in unseren Zeiten wohl das deutlichste Zeichen – die sofortige Großzügigkeit des französischen Kapitalismus dienen dafür als Zeugnis.

Darüber hinaus ist die Frage nach dem Wiederaufbau auch eine politische, ersichtlich an der langen und stolzen Tradition französischer Präsidenten, als öffentliche Bauherren aufzutreten. Man denke bloß an das Centre Pompidou, eröffnet von Präsident Valéry Giscard d’Estaing, oder an die Opéra Bastille sowie die Pyramide vor dem Louvre, beide von Präsident François Mitterand in Auftrag gegeben. Präsident Emmanuel Macron will nun an diese Tradition anknüpfen. Doch abgesehen von Macrons politischem Vermächtnis wird bereits jetzt schon über die Pläne des Wiederaufbaus gestritten.

Während es Ideen gibt, das Dach der Kathedrale mit Bäumen zu bepflanzen, fordern andere eine originalgetreue Rekonstruktion. Wer hätte gedacht, dass im 21. Jahrhundert architektonische Debatten mit solch einer Leidenschaft in der Öffentlichkeit geführt werden? Doch es geht um nichts Geringeres als um das Wahrzeichen einer Nation und um ein Symbol, das auf die Frage der nationalen Identität eine Antwort zu geben vermag.

Diese Beispiele zeigen, dass Kultur und Identität maßgebliche politische Faktoren sind, die nicht einfach als “irrational” abgewiesen werden können. Der Mensch ist weder das vollkommen rationale Wesen, das sich die Aufklärer erhofft hatten, noch ist er ein “homo economicus”, wie es Effizienzfetischisten gerne hätten. Der Mensch braucht Symbole und Geschichten: Dinge, die ihn zum Lachen bringen und ihn mit anderen Menschen verbinden. Er braucht Kultur – auch in der Politik. Es ist falsch, der Kultur das Primat in der Politik zu überlassen so wie es die Identitären machen.

Wie genau deren bizarren Rassentheorien die Digitalisierung, geschweige denn den Klimawandel bewältigen sollen, bleibt äußerst fraglich. Dennoch gibt es eine große Sehnsucht nach dem Immateriellen; nach etwas, das in einer technokratischen und profitorientierten Welt einer Seele ähneln könnte. Dafür brauchen wir den Theaterabend, das Volksfest oder auch Kunstschatzi. Dafür brauchen wir Kultur.