Literaturnobelpreis für Peter Handke: der Haken an politisierender Literatur.

By Max Gruber

Wie kaum ein anderer Nobelpreis hat jener für Literatur seit jeher den öffentlichen Diskurs bewegt und in der Regel eine Vielzahl kritischer Stimmen auf den Plan gerufen – so auch im Jahr 2019 mit der Verleihung des Preises an Peter Handke. 

Bereits 1938 wurde die Verleihung an die Amerikanerin Pearl S. Buck massiv kritisiert, weil die Autorin nach Meinung vieler selbsternannter Kritiker mit ihren Schilderungen des Landlebens im China ihrer Zeit zu trivial schreibe. Bei der Vergabe an Winston Churchill polemisierte der Autor Arno Schmidt, der Nobelpreis trage das „Stigma der Mittelmäßigkeit“, sei der ehemalige britische Premierminister doch ein „ausgesprochener Journalist von Mittelmaß“. Als 2016 Bob Dylan ausgezeichnet wurde, hätten viele den Preis lieber bei einer im klassischen Sinne schreibenden Person aufgehoben gesehen. 

Die Auszeichnung Peter Handkes erfolgte laut Stellungnahme der Schwedischen Akademie „für ein einflussreiches Werk, das mit sprachlichem Einfallsreichtum Randbereiche und die Spezifität menschlicher Erfahrungen ausgelotet hat.“ Wurde die literarische Bewertung der Schwedischen Akademie selten thematisiert, so war es im Fall von Handke vor allem das politische Engagement des Autors, das vielerorts Unverständnis über die Verleihung hat aufkommen lassen. Handke bezog von 1995 an während der Jugoslawienkriege eine ausdrücklich pro-serbische Haltung und verteidigte die Milošević-Regierung öffentlich unter anderem in seinem Reisebericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Während das offizielle Österreich „seinen“ Literaturnobelpreisträger feiert und auch Literaten wie Elfriede Jelinek oder der Literaturkritiker Denis Scheck der mutigen Entscheidung der Akademie Lob ausgesprochen haben, wird die Entscheidung von anderen beargwöhnt. Erneut rückt die politische Dimension des Literaturnobelpreises wie auch von Literatur ins Zentrum des Diskurses. Der „Unschuld“ von Texten wird die politische Verantwortung der Schreibenden gegenübergestellt. Ist es einer allgemeinen Wurschtigkeit geschuldet, dass Texte abstrahiert von der politischen Positionierung ihrer Verfasser gelesen werden, beziehungsweise diese als nicht relevant für die Textrezeption aufgefasst wird? Oder ist „Selbst-Zensur“ gefragt, die Texte aus der Feder von an der „political correctness“ vorbeischrammenden Personen aus unserem Literaturrepertoire verbannt?

Texte bereiten Vergnügen, erheitern, machen traurig; sie verletzen. Die Gefühle, die ein Text bei seinem Publikum auslöst, sind selbstverständlich relevant. Die Verfasserintention herauszufinden sowie mit den Emotionen, die ein Text auslöst, zu verknüpfen und auf sie rückzuschließen, ist jedoch im Bereich der Textinterpretation zu verorten und einer aufgeschlossenen Lektüre hinderlich. Die Beurteilung des Marquis de Sade, der als Kind der Aufklärung seine Prosa und Dramen auch mit politischen Pamphleten unterfütterte und somit seinen Ansichten zu den gesellschaftlichen Umbrüchen seiner Zeit und seinen radikalen Plänen für eine sexuell aufgeklärte Gesellschaft Ausdruck verlieh, ist ein Paradebeispiel jener Problematik:  Bis heute wird der Autor von der konservativen Literaturwissenschaft und -kritik bestenfalls als Pornograph betitelt, der keine akademische Betrachtung verdient – ein Urteil, das zeitgenössisch etwa auch über die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek gefällt wird. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das Akademiemitglied Knut Ahnlund nach Bekanntgabe der Vergabe an die Österreicherin nicht mehr an Sitzungen des Komitees teilnahm – mit ihrer „lustlose[n] Gewaltpornographie“ verdiene die Autorin den Preis nicht und habe die Reputation des Preises auf unabsehbare Zeit zerstört. Offenkundig spielen persönliche Präferenzen bei der Bewertung von Texten eine ausschlaggebende Rolle; ein wissenschaftliches Kriterium sind sie jedoch nicht. Vertritt man einen extensiven Literaturbegriff, rücken sämtliche Texte potentiell ins Licht der Aufmerksamkeit. Eine objektive Begründung, warum beispielsweise eine Beschäftigung mit kanonisierter avantgardistischer Literatur wie etwa jener von Georges Perec legitim ist, aber Elfriede Jelinek auf die Müllhalde der Belletristik verbannt werden sollte, bleibt in der Regel aus. Dasselbe gilt für die Literatur Peter Handkes. Die Frage, wie viel Potential ein Text besitzt, kann nicht von ästhetischen Kriterien abhängig gemacht werden – ebenso wenig von der politischen Ausrichtung seines Autors. Auch ohne einen marxistischen Standpunkt zu vertreten kann man den Schriften von Karl Marx schwer ihre Wirkmächtigkeit abstreiten; genauso ist eine Annäherung an Handkes Texte und der Versuch, sich ihre sprachliche Gewandtheit zu erschließen, nicht mit einer naiven Verehrung des Autors gleichzusetzen. Den politischen Aspekt nicht aus dem Blick zu verlieren, ist legitim und notwendig bei der Bewertung der Figur Peter Handkes als enfant terrible der österreichischen Gegenwartsliteratur – nicht jedoch bei der Bewertung seiner Texte. Dieser textpuristische Ansatz, den sich sowohl die Literaturkritik und -wissenschaft zugrunde legen können, als auch jede Leserin und Leser, wird grundsätzlich bei der Vergabe des Nobelpreises ebenfalls vertreten; das Komitee der Schwedischen Akademie stellt jedoch darüber hinaus noch einen weiteren Anspruch. 

Wie alle Nobelpreise soll laut Testament Alfred Nobels auch jener für Literatur „denen zugeteilt werden, die […] der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben“; außerdem solle den Preis die Person erhalten, die „das Beste in idealistischer Richtung geschaffen“ habe. Mit anderen Worten wird potentiellen Preisträgern auch eine Art politisches Engagement abverlangt, welche sich in ihrem Werk widerspiegeln soll. Bei Preisträgern wie Jean-Paul Sartre oder auch Bob Dylan scheint dieses Kriterium zur Genüge erfüllt – doch Peter Handke? Sein Eintreten für die Sache Serbiens unter Milošević mag einer gewissen Nostalgie an das ehemalige Jugoslawien geschuldet sein; es als Idealismus zu bezeichnen mutet jedoch als Verhöhnung der Opfer und der Geflüchteten der Jugoslawienkriege an, welche aufgrund der materiellen Zerstörung und des persönlichen Leids, das sie verursacht haben, nicht zu Unrecht als verheerendste Serie von Konflikten in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnet werden. Verschärft wird dieser Eindruck durch ein im Rahmen der Nobelpreisverleihung ans Tageslicht getretenes Interview des Autors mit der rechtslastigen Zeitschrift Ketzerbriefe, das 2011 in Paris aufgezeichnet wurde. Bereits in seinem Werk Gerechtigkeit für Serbien betitelte er die Gewaltexzesse als „mutmaßlich“ und relativierte damit ihre Tragweite und Grauen; in besagtem Interview geht Handke über sein pro-serbisches Engagement und seine Verteidigung der Person Miloševićs hinaus und leugnet konkret das Ausmaß und die Ausführung des Massakers von Srebrenica. Handke komme es so vor, „als sei es (das Massaker von Srebrenica) ein Racheakt von serbischer Seite gewesen. Nicht, dass ich es verurteilen würde, aber ich kann es auch nicht uneingeschränkt gutheißen. Jetzt kommt man ständig mit den 8000 Opfern und dem angeblich schlimmsten Massaker seit dem Zweiten Weltkrieg; unversehens kommt hier mit Auschwitz der deutsche Faschismus rein.“ Handke fährt fort mit Mutmaßungen über eine etwaige Konstruktion der Ereignisse von Srebrenica als Massaker durch US-Präsident Bill Clinton und den bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović. In einer Stellungnahme streitet Handke jedoch die Autorisierung des Interviews ab und verweist auf das Jahr 2006, als er Srebrenica als schlimmstes Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet hat. Inwieweit dem Glauben geschenkt werden kann, ist fraglich, zumal ausgerechnet 2006 Handke auch als Grabredner beim Begräbnis Miloševićs in Belgrad in Erscheinung trat und von nationalistischen Kreisen in Serbien in der Folge hofiert wurde. 

Die literarische Dimension der Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke ist nachvollziehbar und zeichnet das umfassende Werk des Autors unzweifelhaft und möglicherweise gerechtfertigt aus. Was die politische Dimension betrifft, führt die Schwedische Akademie ihre von Nobels Testament abgeleiteten idealistischen Grundsätze mit ihrer Entscheidung jedoch ad absurdum. Der Ausgang einer von der Akademie angekündigten Untersuchung des aufgetauchten Interviews ist fraglich; Fakt ist, dass nicht die literarische, wohl aber die politische Glaubwürdigkeit der Akademie durch die Verleihung an Handke in nicht absehbarer Weise gelitten hat.